News | Andenregion - Mexiko / Mittelamerika / Kuba Worum geht es im Konflikt zwischen Venezuela und Guyana?

Der Streit um das Esequibo-Gebiet hat auch mit venezolanischer Innenpolitik zu tun

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Tobias Lambert,

Wandbild in Caracas: «Venezuela, der Esequibo gehört uns.»
Wandbild in Caracas: «Venezuela, der Esequibo gehört uns.» Foto: Tobias Lambert

Anfang April erschien die venezolanische Vizepräsidentin, Delcy Rodríguez, vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH). Dort reichte sie ein Dokument ein, das den Anspruch Venezuelas auf den sogenannten Esequibo-Streifen untermauert, den das Nachbarland Guyana ebenfalls erhebt. Seit 2018 wird der Konflikt in Den Haag verhandelt. Doch die venezolanische Regierung hat wiederholt klargestellt, dass sie die Zuständigkeit des IGH nicht anerkennt. Stattdessen schafft sie seit Dezember vergangenen Jahres die Grundlagen, um das völkerrechtlich umstrittene Gebiet offiziell als Teil Venezuelas einzugliedern. Praktisch zeitgleich zu der letzten Sitzung des IGH am 8. April veröffentlichte das venezolanische Amtsblatt ein «Gesetz zur Verteidigung des Esequibo», das die venezolanische Nationalversammlung wenige Tage zuvor in zweiter Lesung verabschiedet hatte. Dieses schafft den venezolanischen Bundesstaat «Guayana Esequiba», der bis zur endgültigen Klärung des Sachverhaltes zunächst von Caracas aus verwaltet werden soll.

Mit Ausnahme einer Flussinsel kontrolliert aber Guyana das dünn besiedelte Esequibo-Gebiet, das mit rund 160.000 Quadratkilometern knapp halb so groß wie die Bundesrepublik ist. In dem einzigen englischsprachigen Land Südamerikas, das zu den ärmsten des Kontinents zählt, leben gerade einmal 800.000 Menschen. Das Gebiet westlich des Esequibo-Flusses macht etwa zwei Drittel von Guyanas Staatsgebiet aus. In der Region leben mindestens neun indigene Gruppen, von denen sich mehrere auf beiden Seiten der Grenze bewegen. Zudem sind Goldsucher aus Brasilien und Venezuela in dem rohstoffreichen Gebiet aktiv.

Tobias Lambert arbeitet als freier Autor, Redakteur und Übersetzer zu Lateinamerika. Seit Jahren beschäftigt er sich intensiv mit Venezuela.

Die knapp 130.000 Einwohner*innen des Esequibo spielen in dem alten Konflikt, der tief in die Vergangenheit zurückreicht, bislang kaum eine Rolle. Im 18. Jahrhundert zählte Spanien das Gebiet zu seinem Kolonialreich. Nach der Unabhängigkeit Venezuelas im Jahre 1811 wurde der Esequibo daher zunächst als venezolanisches Gebiet ausgewiesen.

Von Britisch-Guyana zum Vertrag von Genf

1814 erwarb Großbritannien Teile des heutigen Guyana von den Niederlanden. Der deutsche Forschungsreisende Robert Schomburgk zog im Auftrag der britischen Regierung 1840 die westliche Grenze der Kolonie und weitete sie dabei beträchtlich aus. Der Konflikt mit Venezuela begann kurz darauf, als britische Truppen in die Region vorrückten. 1899 sprach ein internationales Schiedsgericht die Esequibo-Region schließlich Britisch-Guyana zu.

Mitte des 20. Jahrhunderts wurden allerdings begründete Zweifel an der Unvoreingenommenheit dieses Schiedsgerichts bekannt. Wenige Monate vor der Unabhängigkeit Guyanas im Jahr 1966 erkannte Großbritannien im «Vertrag von Genf» die venezolanischen Ansprüche grundsätzlich an. Der Konflikt sollte demnach durch Verhandlungen gelöst werden. Guyana beruft sich bis heute auf den Schiedsspruch von 1899. Venezuela hingegen pocht auf den «Vertrag von Genf» und lehnt daher auch die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs ab, der über die Rechtmäßigkeit dieses Schiedsspruchs entscheiden soll. Von den Gebietsansprüchen rückte seitdem keine venezolanische Regierung ab. Fortschritte in der Lösung des Konflikts gab es jedoch kaum. Auch Präsident Hugo Chávez (1999-2013) ging nicht auf Konfrontation, sondern suchte vielmehr gute Beziehungen zu Guyana und schickte über das Abkommen «Petrocaribe» verbilligte Erdöllieferungen auch an das Nachbarland.

Es geht ums Öl

An Brisanz gewann der Konflikt ab 2015, als ein Konsortium um den US-Konzern ExxonMobil, dem mit der China National Offshore Oil Corporation (CNOOC) auch ein chinesischer Staatskonzern angehört, große Erdölvorkommen vor der Küste des Esequibo entdeckte. Die Rede ist von deutlich über zehn Milliarden Barrel. Die Regierung Maduro sieht hinter den Interessen Guyanas vor allem die US-Regierung und den Konzern ExxonMobil, dem Guyana Förderlizenzen erteilt hat.

Seitdem überschlagen sich die Erwartungen auf einen Boom. Bis 2027 will Guyana 1,2 Millionen Barrel Erdöl täglich produzieren, momentan sind es zwischen 300.000 und 400.000. Schon jetzt sorgt der Anstieg der Fördermenge, der nahezu komplett auf die Offshore-Tätigkeiten des sogenannten Stabroek-Blocks in der von Venezuela reklamierten Meereszone zurückgeht, für immenses Wirtschaftswachstum. Seit 2020 wuchs die guyanische Wirtschaft jährlich um mindestens 20 Prozent; 2022 verzeichnete das Land mit knapp 58 Prozent das größte Wachstum weltweit.

Die Einnahmen aus dem Ölverkauf könnten theoretisch die sozialen und wirtschaftlichen Probleme Guyanas lösen. Doch haben in dem Land viele Menschen das Gefühl, von ExxonMobil über den Tisch gezogen worden zu sein. 75 Prozent der Einnahmen sollen zunächst beim US-amerikanischen Mineralölkonzern verbleiben, die restlichen 25 Prozent gehen an Guyana. Diesen schlechten Deal begründete die damalige Regierung damit, dass große Investitionen nötig seien, um das Öl zu erschließen. Heute, in der Opposition, fordern dieselben Politiker*innen, das damalige Abkommen nachzuverhandeln.

Die Erfahrungen anderer Erdölförderländer zeigen zudem, dass Rohstoffreichtum keineswegs automatisch in soziale Fortschritte mündet. Das gilt offenbar auch in diesem Fall: Trotz des enorm steigenden durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens gibt es bisher keine Anzeichen dafür, dass bei der breiten Bevölkerung auch etwas von dem Geld ankommt. Zunächst einmal investiert die Regierung vor allem in Infrastruktur. Und bald könnte Guyana auch zu den Staaten mit den höchsten Pro-Kopf-Emissionen zählen. Bisher leistete das Land aufgrund seiner Regenwälder einen Beitrag zum weltweiten Klimaschutz und hatte sich eigentlich vorgenommen, den eigenen Energiebedarf bis 2025 ausschließlich durch erneuerbare Energie zu decken.

Weitere Bedenken bestehen aufgrund schwer kalkulierbarer Umweltrisiken, wie sie mit Offshore-Projekten in der Tiefsee einhergehen. Ein Unglück wie auf der Ölbohrplattform Deepwater Horizon im Golf von Mexiko 2010 könnte nicht nur Guyana, sondern zahlreiche Karibikinseln treffen. Die Anwältin Melinda Janki reichte bereits mehrere Klagen wegen der Umweltrisiken ein und hatte damit teilweise Erfolg. So musste die Regierung die Konzession, die sie ExxonMobil ursprünglich für 23 Jahre erteilt hatte, zunächst auf fünf Jahre beschränken. Und im vergangenen Jahr lehnte ein Gericht die Bedingungen ab, die ExxonMobil und die Umweltschutzbehörde Guyanas ausgehandelt hatten. Laut diesen wäre der Mineralölkonzern im Falle einer Ölverschmutzung nicht haftbar zu machen.